Der christliche Fundamentalismus in Deutschland – ein Positionspapier

Positionspapier

Der christliche Fundamentalismus in Deutschland

„Patriarchalisch-autoritäre Gemeinde- und Familienstrukturen sind erkennbar an religiös begründeten Machtstrukturen, die sich beispielsweise auf eine strikte Unterwerfung des Mannes unter „den Willen Gottes“, auf die Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes und die Unterordnung der Kinder gegenüber den Eltern berufen. Ein Missbrauch derartig definierter Autorität in problematischen fundamentalistischen Kreisen lebt dabei psychodynamisch gesehen vom Missbrauch der frommen Hingabebereitschaft der schwächeren Mitglieder.“ Helmar Bluhm (Forschungsbericht „Problematischer religiöser Fundamentalismus und das Kindeswohl nach deutschem Recht“)

Angst vor großen Veränderungen war schon immer ein Nährboden sowohl des Populismus als auch des religiösen Fundamentalismus und die Globalisierung spielt ihnen heute dabei in die Hände. Ein Weltbild, das auf alle komplexe Sachverhalte eine einfache Antwort gibt, vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Und hier schließt sich der Bogen vom Rechtspopulismus zu fundamentalistischen Strömungen, die heute weltweit in allen großen Religionen Intoleranz und Gewalt anfachen. Die Nähe christlicher Fundamentalisten zu rechtspopulistischen und rechtsradikalen Bewegungen und Parteien stellt eine Gefahr dar für die in den letzten Jahrzehnten erkämpften Freiheitsrechte, für eine plurale, weltoffene Gesellschaft und für die liberale Demokratie. Die Entwicklungen in den USA und in Brasilien haben uns vor Augen geführt, welchen verheerenden Einfluss eine reaktionäre, teilweise rechtsradikale religiöse Rechte gewinnen kann.

Strömungen innerhalb der christlichen Kirchen

Während in den evangelischen Landeskirchen die Liberalen dominieren, sind es in der katholischen Kirche die Traditionalisten und in den Freikirchen die Evangelikalen. Charakteristisch für die jeweiligen Strömungen ist das Verhältnis zur Bibel und nicht die organisatorische Zugehörigkeit. Die Evangelikalen (“Bibeltreuen”) zeichnen sich dadurch aus, dass für sie die Bibel ohne Abstriche Gottes Wort ist. Ihre Anhänger*innen gehen von der „Irrtumslosigkeit der Bibel“ aus. Als anschauliches Beispiel für die Wissenschaftsfeindlichkeitder Evangelikalen ist der Kreationismus (Stichworte: Evolutionstheorie und Schöpfungsgeschichte) zu nennen oder der Glaube an Dämonen (z.B. Konversionstherapien für Homosexualität). Die Liberalen prägen die Evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Sie beurteilen nicht den Zeitgeist anhand der Bibel, sondern interpretiert die Bibel vor ihrem historischen Hintergrund. Und für die Traditionalisten stehen die Liturgie, Rituale, Lehren und die Glaubenspraxis der eigenen Kirche im Vordergrund. Im Hinblick auf die Reizthemen Abtreibung, Homosexualität, etc. sind Traditionalisten in ihrer Ablehnung oft mit den Evangelikalen einig. Aber während Evangelikale ihre Ablehnung aus der Bibel herleiten, steht für Traditionalisten eher die kirchliche Sicht und Tradition im Vordergrund.

Christliche Fundamentalisten auf Kreuzzug gegen die liberale Demokratie

So wie die Evangelikalen und die katholische Rechte das Christentum lebt, beinhaltet es massive politische Implikationen. Antifeminismus, Homophobie und ein traditionelles Familienbild prägen ihr denken. Lesbische Frauen, Trans*personen und alle anderen, die nicht zur Zwei-Geschlechter-Norm passen, werden bekämpft. Die Ablehnung der Gleichberechtigung aller Geschlechter und Lebensformen sowie Wissenschaftsfeindlichkeit runden ihr Weltbild ab. In vielen gesetzeswidrigen Homeschooling-Familien wird Kindern die Schöpfungsgeschichte gelehrt und die „Evolutions-Lüge“ sowie die sexuelle Früherziehung ausgeklammert.

Im Kampf für die Durchsetzung ihrer kruden Vorstellungen schrecken sie auch vor Psychoterror nicht zurück: Sie bezeichnen Homosexuelle pauschal als Verbrecher und Homosexualität als „Degenerationsform der Gesellschaft“, verhöhnen den Holocaust indem sie Schwangerschaftsabbrüche mit Menschheitsverbrechen gleichsetzen und als „Babycaust“ bezeichnen und stehen vor Arztpraxen und Krankenhäusern Spalier um Frauen einzuschüchtern.

Fundamentale Christinnen und Christen sind aber nicht nur mit tiefem Glauben gesegnet, sondern auch mit Aberglauben. Unter Berufung auf die Bibel glauben sie an Dämonen, die Menschen manipulieren und kontrollieren können. Solche von Dämonen oder Teufeln besessene Personen könnten mittels „Exorzismus“ „kuriert“ werden – glauben sie. Durch sogenannte Konversionstherapien sollen zum Beispiel homosexuelle Menschen von ihrer „Krankheit“ geheilt werden. Derartige Austreibungsrituale sind nicht nur quälend, sondern sie können tödlich enden.

Innerkirchliche Konflikte sollen von den Gläubigen der jeweiligen Kirche ausgetragen werden. Doch wenn fundamentalistische, rechtsradikale Strömungen (Amts-)Kirchen zu kapern versuchen, die eng mit unserem Staat verwoben sind, dann muss Politik darauf reagieren.

Der Einfluss der Evangelikalen Bewegung

Die Anzahl der Evangelikalen beträgt in Deutschland etwa 1,3 Millionen, davon ist die Hälfte Mitglied der Landeskirchen, die andere Hälfte in Freikirchen, unabhängigen Gemeinden und Hauskreisen organisiert wie zum Beispiel die Baptisten, Pfingstgemeinden und Methodisten. Es ist zu befürchten, dass in Deutschland die rein evangelikal ausgerichteten Kirchen deutlich wachsen und sie innerhalb der christlichen Amtskirchen an Einfluss gewinnen werden. Evangelikale Organisationen arbeiten systematisch daran, ihre politisch-gesellschaftliche Stellung auszubauen. In den einzelnen Landeskirchen sind sie unterschiedlich stark präsent. Auch außerhalb des unmittelbar kirchlichen Spektrums versuchen sie auf verschiedenste Weise Einfluss zu gewinnen. Es gibt in Deutschland mittlerweile mehr als 80 evangelikale – teils fundamentalistische – Bekenntnisschulen. Evangelikale missionieren mit „Campus für Christus“ und mit der „Studentenmission in Deutschland“ an Hochschulen, unterhalten eine Vielzahl von Verlagen, haben mit dem „Evangeliums-Rundfunk“ einen Radiosender aufgebaut, mischen über den Verein „Christliche Fachkräfte International“ in der staatlichen deutschen Entwicklungspolitik mit, missionieren intensiv unter Jugendlichen mit Massenveranstaltungen wie das Christival und sind in zahlreichen weiteren Bereichen von der Suchtberatung über die Diakonie bis zur Militärseelsorge präsent. Gezielt suchen evangelikale Organisationen über Lobbyarbeit und Kongresse Einfluss auf Politik und Wirtschaft zu nehmen.

Der Einfluss der katholischen Rechte

Rechte Strömungen in der katholischen Kirche unterscheiden sich nicht so sehr in ethischen und politischen Fragen von den Evangelikalen, sondern vielmehr in theologischen. In der streng hierarchisch von oben nach unten durchstrukturierten katholischen Kirche haben rechte Organisationen spürbar vom Wirken der beiden ultrakonservativen Päpste Johannes Paul II. (1978 bis 2005) und Benedikt XVI. (2005 bis 2013) profitiert. Eine der bekanntesten von ihnen ist das Opus Dei. Die im Jahr 1928 gegründete Vereinigung ist heute mit weltweit rund 90.000 Mitgliedern – davon etwa 2.000 Priester – die Kaderschmiede für oft einflussreiche, der katholischen Rechten verpflichtete Personen. In seinen ersten Jahrzehnten war das Opus Dei dem spanischen Faschismus eng verbunden und stellte unter Franco zeitweise mehrere Minister. Später hat es rechte Regime in Lateinamerika unterstützt. In Deutschland zählt das Opus Dei laut eigenen Angaben rund 600 Mitglieder. 1987 konnte das Opus Dei erstmals die Führung einer Kirchengemeinde in Deutschland übernehmen (St. Pantaleon in Köln).

Neben dem Opus Dei hat vor allem die Priesterbruderschaft St. Pius X. vom Pontifikat Benedikts XVI. profitiert. Sie ist 1970 von Erzbischof Marcel Lefebvre gegründet worden – in scharfer Abgrenzung gegen die Modernisierungsbestrebungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965). Sie weist eine erhebliche Nähe zur extremen Rechten auf. In Frankreich haben sich mehrere ihrer Führungsfunktionäre wiederholt für den Front National (FN) ausgesprochen und in Deutschland unterhält sie ein Priesterseminar in Zaitzkofen (Landkreis Regensburg).

Neben bedeutenden Organisationen wie Opus Dei und der Priesterbruderschaft St. Pius X. tummeln sich in der katholischen Rechten in Deutschland eine ganze Reihe kleinerer Organisationen – von der Katholischen Pfadfinderschaft Europas über das „Engelwerk“, das die Verehrung von Engeln in der Kirche fördern will, bis hin zu Online-Portalen wie kath.net, das zuweilen auf die Rechtsaußen-Wochenzeitung Junge Freiheit verweist und Beiträge von deren Autoren publiziert.

Extremismusbekämpfung als Teil der Präventionspolitik

In religiös pluralisierten Gesellschaften mit einer wachsenden Zahl von Konfessionslosen kann die Demokratie und die politische Ordnung nicht religiös verankert werden. Die Religionsfreiheit ist ein höchst persönliches Grund- und Menschenrecht, das in Konkurrenz zu anderen Rechtsgütern steht und bisweilen dazu benutzt wird, die Grundrechte anderer Menschen zu beschneiden. Voraussetzung für Religionsfreiheit ist die weltanschauliche Neutralität des Staates. Unser politisches System wird vom Bundesverfassungsgericht als streitbare, wehrhafte Demokratie bezeichnet. Gegen Organisationen, die die freiheitlich demokratische Grundordnung ablehnen, darf präventiv vorgegangen werden.

Wir fordern den Landesvorstand Berlin von Bündnis 90/Die Grünen sowie die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin auf, sich dafür einzusetzen, …

  • … dass in der Präventionsarbeit und bei den Projekten gegen religiös begründeten Extremismus das Themenfeld „Christlicher Fundamentalismus“ verstärkt in den Blick genommen wird. Es soll bei der Vernetzungsarbeit des Landes-Demokratiezentrums berücksichtigt und in den Landesprogrammen bei der Innenverwaltung und der Antidiskriminierungsverwaltung eigene Vorhaben angeboten bzw. die Erweiterung bestehender Angebote ermöglicht werden.
  • … dass die Senatsverwaltung für Inneres ihre zuständigen Fachdienste anweist, den christlichen Fundamentalismus als Problem in Broschüren, in Internet- und Beratungsangeboten sichtbar zu machen, und zwar überall dort, wo Extremismusprävention betrieben wird.
  • … dass in den Jugendämtern Ansprechpartner*innen sensibilisiert werden, um religiös motivierte Gewalt – wie körperliche Züchtigungen als Erziehungsmodell – schnell erkennen und geeignete Maßnahmen dagegen einleiten zu können.
  • … dass auf Landesebene die Stelle einer/s Weltanschauungsbeauftragten eingerichtet wird, die/der – neben anderen Aufgaben – Aufklärungs- und Präventionsarbeit zum religiösen Fundamentalismus leistet.
  • … dass der der Innenministerkonferenz unterstellte „Arbeitskreis Innere Sicherheit“ (AK II) im Rahmen der polizeilichen Präventionsarbeit im Bereich „Extremismus“ neben den derzeit bearbeiteten Themengebieten „Linksextremismus“, „Rechtsextremismus“ sowie „Islamismus & Salafismus“ zusätzlich der Komplex „Christlicher Fundamentalismus“ aufgenommen wird.
  • … dass sich der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz entschlossen allen fundamentalistischen Strömungen entgegenstellen und auf ein klares Bekenntnis aller ihrer Amts- und Funktionsträger*innen zu Grundgesetz und Menschenrechten hinwirken. Dies gilt insbesondere bei der Entsendung ihrer Vertreter*innen in öffentliche Ämter wie Ethikrat, Rundfunkrat, etc.

LAG Säkulare Grüne Berlin 02.09.2020

Ansprechpartner: Herbert Nebel, nebelherbert@t-online.de, 0175-296 88 73