Initiative zur Diskussion über „Sterbehilfe“
Der Bundesprecher*nnenkreis der Säkularen Grünen ruft mit einer Initiative zu einer umfassenden Debatte innerhalb von Bündnis 90 / Die Grünen und in der Gesellschaft auf. Die Problematik einer organisierten Sterbehilfe und insbesondere eines ärztlich assistierten Suizids ist gesellschaftlich bedeutsam. Eine Verständigung innerhalb der gesamten Partei über die ethischen Grundfragen ist erforderlich.
Hier geben wir den kompletten Aufruf im Wortlaut wieder:
Für eine umfassende Debatte von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN zur Sterbehilfe
Keine Kriminalisierung der Sterbehilfe !
In dieser Legislaturperiode – voraussichtlich in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 – steht eine Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Strafbarkeit organisierter Sterbehilfe und eines von Ärzten assistierten Suizids an. Seitens der CDU/CSU-Fraktion wird darauf gedrängt, eine gesetzliche Regelung zum strafrechtsbewehrten Verbot der sogenannten gewerbsmäßigen Sterbehilfe herbeizuführen. Geplant ist in der Sache aber, jede organisierte Form von Beihilfe zur Selbsttötung zu verbieten. Ein solches Vorhaben war in der vergangenen Legislaturperiode noch am Widerstand der FDP-Fraktion gescheitert.
Diese Thematik ist von grundsätzlicher gesellschaftlicher Bedeutung. Zum einen betrifft sie jede und jeden von uns in der eigenen Existenz und im engsten sozialen Umfeld. Zum anderen berührt sie das gesellschaftliche Ethos. Ein gesellschaftlicher Konsens ist in dieser Angelegenheit weder gefunden noch überhaupt erörtert worden. Auch innerhalb von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN hat es hierzu keinerlei Verständigung gegeben.
In einer säkularen sowie religiös und weltanschaulich heterogenen Gesellschaft wie unserer ist es unabdingbar, einen gesellschaftlichen Konsens in grundlegenden ethischen Angelegenheiten herbeizuführen. Dazu muss eine allgemeine gesellschaftliche Debatte geführt werden. Ein Rückgriff etwa auf religiöse Normen als Grundlage dieses Konsenses würde nur zu gesellschaftlichem Unfrieden führen – und nicht zu Gemeinsamkeit.
Es ist der Bedeutung des Themas nicht angemessen, seine Erörterung lediglich den Mitgliedern des Deutschen Bundestags zu überlassen. Vielmehr ist eine breit angelegte Selbstverständigung der gesamten Gesellschaft über die gemeinsamen ethischen Werte geboten. Die Definition der Werte, die in Bezug auf Leben, Krankheit, Sterben und Tod unter Beachtung von Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht eines Jeden in einer freiheitlichen Gesellschaft beachtlich sein sollen, geht alle an.
Die große Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung hat zu diesem Thema durchaus eine klare Haltung. Sie äußert Verständnis für einen Suizid erwachsener schwersterkrankter Menschen und für die ärztliche attestierte Beihilfe zum Suizid. Nach einer FORSA-Umfrage im Jahr 2012 liegt die Rate der Befürwortung bei Konfessionslosen bei 84 Prozent, bei Katholiken bei 69 und bei evangelischen Christen bei 76 Prozent. Dies zeigt eine große Übereinstimmung, unabhängig von religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen. Etwa drei Viertel der Bevölkerung will, dass man nötigenfalls auf ärztliche Hilfe zur Lebensbeendigung zurückgreifen kann und lehnt eine staatliche Bevormundung in dieser Angelegenheit ab.
Es wäre vermessen und töricht, über diese Haltung der Bevölkerung hinwegzugehen und sich auf den Standpunkt zu stellen, besser zu wissen, was in Hinsicht auf Leben und Tod, in Hinsicht auf eine höchstirreversible Entscheidung von Bedeutung ist und was nicht. Gängelung ist die schlechteste Variante der Konsenssuche.
Grundsätze bei der Beurteilung einer organisierten Sterbehilfe und eines ärztlich assistierten Suizids müssen sein:
- Die „Lebenswertbestimmung“ über seine eigene Existenz und deren Beendigung kann und darf allein nur bei dem betroffenen und umfassend über seine Situation informierten Menschen liegen.
- Vollständige Informationen über die auf die Situation des betroffenen Menschen bezogenen Hilfsangebote in sozialer, finanzieller, psychologischer und medizinischer Hinsicht sind für eine selbstbestimmte Entscheidung unabdingbar. Umfassende Beratung und Aufklärung, die auch konkret realisierbare menschenwürdige Alternativen zum Suizid aufzeigt, müssen zum obligatorischen Minimum einer organisierten Sterbehilfe gehören ebenso wie Nachweis- und Dokumentationspflichten. Sterbehilfe muss aus dem jetzigen Graubereich herausgeholt werden, auch um die Freiwilligkeit und Dauerhaftigkeit eines Suizidwunsches genau prüfen zu können.
- Eine kritische Bestandsaufnahme der vorhandenen Alternativen für Schwersterkrankte im Rahmen von Beratung, Unterstützung und Palliativmedizin ist ebenso gefordert wie eine Erörterung der Mängel der Pflegebedingungen von alten und kranken Menschen in Pflegeheimen. Hier besteht bekanntlich großer Nach-holbedarf. Gegenwärtig haben nur etwa 16 Prozent der Sterben den Zugang zu palliativen oder hospizlichen Angeboten.
- Suizidbeihilfe darf nicht zu einer gewinnträchtigen Einnahmequelle werden und nicht aus eigennützigen Motiven verfolgt werden dürfen. Derart zweifelhafte Geschäftsmodelle können aber auch nur da funktionieren, wo durch Kriminalisierung und Tabuisierung ein humaner – Menschenwürde und Selbstbestimmung achtender – Umgang mit dem Sterben und dem Tod unterbleibt.
Die erforderliche Debatte muss das gesamte Vor- und Umfeld des Themas Sterbehilfe kritisch reflektieren. Angesichts des gestiegenen Lebensalters und der Möglichkeiten zur medizinischen Verlängerung des Lebens, aber auch der Verlängerung des Sterbeprozesses muss die Situation von Pflege und die Versorgung in Heimen und der eigenen Wohnung sowie der Ausbau der palliativmedizinischen Angebote thematisiert werden.
Von entscheidender Bedeutung allerdings ist: Menschliche Existenz darf niemals unter dem Gesichtspunkt eines „Kostenfaktors“ bewertet werden!
Es geht um die Freiheit und Würde eines Menschen im Ausnahme- und Extremfall, bei schwerem aussichtslosen Leiden und unerträglicher Krankheit. Es geht darum, Menschen vor einer der vielen grausamen Suizidarten zu bewahren, die sie mangels Unterstützung und Aufklärung als einzigen Ausweg für sich sehen und wählen. Auch am Lebensende muss das Selbstbestimmungsrecht gewahrt sein. Wenn sich ein Mensch – aufgrund eines freien Entschlusses nach umfassender Information über seine Situation und seine Lebensperspektiven – für den Suizid entscheidet, darf dieser Mensch nicht alleingelassen werden.
Wir erwarten von der gesamten Partei, gemeinsam mit der Bundestagsfraktion, eine breit angelegte Diskussion zu führen. Diese Diskussion darf nicht durch Vorfestlegungen eingeschränkt oder gar unterbunden werden.
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN sollte dieses hochsensible Thema auf der nächsten BDK im November 2014 in der dem Thema angemessenen Breite und Tiefe erörtern.
Mai 2014
Die Sprecher*innen des Bundesweiten Arbeitskreises Säkulare Grüne
Mariana Pinzón Becht
Gislinde Nauy
Walter Otte
Dr. Dr. Rahim Schmidt
Dr. Jörg Winterfeldt
Informationen zum Thema Sterbehilfe
„Mein Ende gehört mir“ – Ein vor kurzem gegründetes „Bündnis gegen ein Verbot der Suizidbeihilfe“ nimmt mit vielfältigen Informationen zu selbstbestimmtem Leben und Sterben Stellung.
Die Situation zur Suizidbeihilfe in Deutschland erörtern u.a. Gerhard Rampp (DGHS) und der Arzt Dr. Michael de Ridder (Notfallmediziner und ehem. Hospizleiter Vivantes Berlin).
Mit den Problemen eines möglichen Missbrauchs setzt sich Erwin Kress vom Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) auseinander, der aber auch fordert, dass die Sterbehilfe aus der derzeitigen Grauzone herausgeholt werden muss.
Gita Neumann (Referentin Lebenshilfe beim HVD) problematisiert, dass es beim Thema Sterbehilfe „noch viele offene Fragen gibt“ und sucht nach Antworten, sie fragt auch, wer ein „Feindbild Sterbehilfe“ benötigt. Sie vertritt eine engagierte und differenzierte Position.
Der Strafrechtler Prof. Dr. Hilgendorf erörtert die Thematik unter vielfältigen, vorrangig auch rechtlichen Fragestellungen, unterbreitet in seinen „15 Thesen“ Reformvorschläge.
Die Humanistische Union (HU) fordert eindeutige gesetzliche Regelungen und hat bereits vor Jahren einen Gesetzesentwurf zur Änderungen des § 216 StGB vorgelegt, damit ärztlich assistierter Suizid aus der „Grauzone“ herauskommt.
Der Philosoph Dr. Dr. Joachim Kahl thematisiert „Freiheit im Leben – Freiheit zum Tode“ und betont Würde und Selbstbestimmung des Menschen.
Beiträge aus religiöser Sicht finden sich bei Hans Küng, der für sich selbst Sterbehilfe nicht ausschließt, und bei dem evangelischen Sozialethiker Prof. Dr. Hartmut Kreß, der Suizid als einen „ethischen Grenzfall“ bezeichnet.
Schließlich ein Bericht von Dr. Uwe-Christian Arnold (Berlin) über praktische Sterbebegleitung.