Staatsakt für die Germanwings-Absturzopfer im Kölner Dom
Mit einem Staatsakt im Kölner Dom wurde der 150 Toten des Flugzeugabsturzes der Germanwings-Maschinen am 24. März in den französischen Alpen gedacht. Diese unfassbare Tragödie bei der 149 Flugpassagiere, Flugbegleiter*innen und der Flugkapitän ermordet wurden, hat eindringlich gezeigt, dass es einen absoluten Schutz des Lebens auch in der modernen Welt nicht gibt.
Es war nicht das oft befürchtete „technische Versagen“, sondern ein menschliches. Die verzweifelte Tat eines zu allem Entschlossenen, der seine besondere Vertrauensstellung missbrauchte und damit den Tod vieler herbeiführte. Ein Vorgang, der fassungslos, traurig, aber auch wütend macht, der mit Worten schwer zu fassen ist.
Die richtigen Worte fand allerdings Bundespräsident Gauck in seiner Ansprache während des Trauer-Staatsaktes am 17.04.2015 im Kölner Dom. Worte, die in passender Weise an alle Hinterbliebenen gerichtet waren, unabhängig davon, ob ihre getöteten Familienangehörige religiös oder religionsfrei waren.
Wir dokumentieren die Ansprache von Joachim Gauck.
Gudrun Pannier Jürgen Roth
LAG Berlin Landessprecher*innen
Walter Otte
Bundesweiter AK Säkulare Grüne Vorstandssprecher
Ansprache des Bundespräsidenten Joachim Gauck
„Wir alle stehen immer noch unter dem unerhörten Schock, der uns am 24. März getroffen hat.
An diesem Tag ist für viele Familien und für viele Freunde das Schlimmste geschehen, was vorstellbar ist: ein geliebter Mensch aus unserer Mitte wird plötzlich in den Tod gerissen – ein Mensch, den wir gerade noch fröhlich verabschiedet oder in den folgenden Stunden freudig zurück erwartet hatten. Seit diesem Tag ist für diese Familien und Freunde nichts mehr, wie es war. Es ist etwas zerstört worden, das in dieser Welt nicht mehr geheilt werden kann.
Wie schmerzvoll das ist und wie herzzerreißend, das ist heute zu spüren, und das war beim Gedenkgottesdienst in Haltern vor drei Wochen zu spüren. Ich habe in so viele todtraurige Augen geschaut an jenem Tag. Und nicht nur einmal hörte ich den Satz: „Sie war unser einziges Kind“. In diesen Begegnungen zerreißt es einem das Herz, dieses Wissen, dass keine Macht der Welt einen solchen Verlust ungeschehen machen kann. Aber wenn wir das nicht vermögen, so heißt es nicht, dass wir Menschen nichts vermögen. Indem wir neben unseren leidenden Mitmenschen stehen bleiben, indem wir zueinander stehen, entsteht zwischen uns ein Band des Mitleidens und des Mittrauerns.
Verbunden durch Ratlosigkeit
Ja, wir sind verbunden durch Trauer, durch Schmerz und zugleich durch eine tief gefühlte Ratlosigkeit. Aber wir sind auch verbunden durch gegenseitige Unterstützung, durch Hilfe, durch Füreinander-Da-Sein. In Leid und Not haben wir näher zueinander gefunden. Dieses Band der Gemeinsamkeit spüre ich in diesen Tagen sehr stark, hier im Kölner Dom, überall im Land und auch im Gespräch und in Korrespondenz mit vielen Staatsoberhäuptern aus dem Ausland, die den Angehörigen der Opfer und unserem ganzen Land ihr Mitgefühl ausgesprochen haben. Auch für diese Verbundenheit bin ich sehr dankbar.
Trauer und Schmerz brauchen ihre Zeit. Bis der Trost wirklich tröstet, und bis wir weitergehen können im Leben, bis dahin hilft oft nur das Wissen und das Gefühl, nicht allein zu sein. Dass wir erfahren: wir werden begleitet, wir werden gehalten, wir werden getragen.
Ich habe vom Schock des 24. März gesprochen. Für viele von uns war die Erkenntnis, die dann folgte, vielleicht noch schlimmer: Als wir erfahren mussten, dass die Ursache mit größter Wahrscheinlichkeit kein technisches Versagen, sondern offenbar von einem Menschen bewusst herbeigeführt war. Dieser eine hat die vielen anderen mit in den Tod gerissen, den er für sich selbst gesucht hatte.
Uns fehlen die Worte für diese Tat. Bei unzähligen Menschen im Land gab es eine furchtbar belastende Mischung von Gefühlen: das war dieses ungläubige Erschrecken, diese Fassungslosigkeit, die Trauer, die bei vielen in Wut und Zorn umschlug. Gleichzeitig fühlten wir uns den Hinterbliebenen noch näher – so als müssten wir sie unterstützen, um dieses ungeheuerliche Wissen, das den Verlust eines geliebten Menschen noch schrecklicher macht, irgendwie zu ertragen. Und dann konfrontierte uns die schreckliche Tat eines einzelnen Menschen mit einer sehr grundsätzlichen Tatsache.
Kein Leben ohne Vertrauen
Wir alle sind im täglichen Leben auf Vertrauen angewiesen. Ein Leben ohne Vertrauen ist nicht vorstellbar, nicht in der Familie, nicht unter Freunden, nicht in der Gesellschaft. Es gibt kein vollkommen kontrollierbares, zu hundertprozentiger Sicherheit führendes Leben. Wir müssen anderen vertrauen – den Autofahrern, die uns in der Kurve entgegenkommen, den Köchen, deren Gerichte wir im Restaurant bestellen, den Installateuren, die unsere Gasleitungen bauen oder kontrollieren. Nirgendwo kommen wir ohne Vertrauen aus.
Und dann gibt es eine Reihe von Berufen und Aufgaben, deren Ausübung mit einer besonders herausragenden Vertrauensstellung verbunden ist: die Lehrer unserer Kinder, Ärzte und Pfleger, Psychologen, Pfarrer und Seelsorger. Und zu diesen besonderen Vertrauenspersonen zählen auch Lokführer, Schiffskapitäne und Piloten. Sie alle tragen in ihrem Beruf Verantwortung für das Leben vieler Menschen.
Wenn hier, an dieser empfindlichen Stelle, Vertrauen missbraucht wird, dann trifft uns das ins Mark. In ein Flugzeug zu steigen ist für die meisten von uns eine alltägliche Situation. Als wir die Schreckensmeldung hörten, spürten wir dann auch: Es hätte einen jeden von uns treffen können. Wir wissen: Weder vor technischen Defekten noch vor menschlichem Versagen gibt es absolute Sicherheit – und erst recht nicht vor menschlicher Schuld.
Umso mehr danke ich heute allen, die Tag für Tag an ihrer Stelle das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen, die pflichtgetreu und gewissenhaft für all diejenigen arbeiten, die ihnen buchstäblich anvertraut sind. Sie arbeiten in Firmen, Behörden und Institutionen, die wir lange kennen, die für ihre Sorgfalt und Integrität bekannt sind, die nach Regeln und Vorschriften arbeiten, und die deswegen unser Vertrauen verdient haben und weiter verdienen.
In den vergangenen Wochen ist über das schreckliche Ereignis viel gesagt und geschrieben worden. Nicht alles war notwendig. Aber vieles war doch hilfreich für die Selbstverständigung in unserer Gesellschaft.
Wir haben über seelische Krankheit und ihre Folgen nachgedacht. Und auch über die Verantwortung, die daraus für die Betroffenen selbst, für ihr berufliches und privates Umfeld und für die ganze Gesellschaft erwächst.
Wir haben über die Rolle der Medien und eine verantwortungsbewusste Berichterstattung angesichts solcher Katastrophen debattiert.
Gedenken an Familie des Co-Piloten
Schließlich haben wir auch immer wieder über die möglichen Gründe und Motive für die Tat nachgedacht. Aber hier gilt: Wir wissen nicht, wie es im Innern des Co-Piloten ausgesehen hat, der sich und 149 anderen das Leben nahm. Wir wissen nicht wirklich, wie es in seinem Kopf aussah in der entscheidenden Sekunde, in den entscheidenden Minuten. Wir wissen aber, dass auch seine Angehörigen am 24. März einen Menschen verloren haben, den sie geliebt haben und der eine Lücke in ihrem Leben hinterlässt – auf eine Weise, für die sie genauso wenig einen Sinn finden, wie all die anderen Hinterbliebenen.
Vielleicht ist es das, was uns so sehr erschreckt hat: die Sinnlosigkeit des Geschehens. Wir sind konfrontiert mit einer verstörenden Vernichtungstat. Da ist keine Antwort zu finden auf die Frage, warum so viele Menschen durch den Entschluss eines Einzelnen in den Tod gehen mussten. Zu Trauer und Schmerz kommt so noch das tiefe Erschrecken hinzu vor den Abgründen der menschlichen Seele, ja des menschlichen Daseins überhaupt. Wir erschrecken auch über das Böse, das sich hier gezeigt hat, weil es durch keine Psychologie und durch keine Technik gänzlich aus der Welt zu schaffen ist. Mögen Menschen auch noch so sehr wünschen in einer Welt ohne Leid, ohne Versagen und ohne Schuld zu leben, verwirklichen lässt sich solch ein Wunschtraum nicht.
Dank an die Helfer
Was uns aber dennoch ja sagen lässt zu einem Leben, das von Bedrohung und Tod begleitet ist, ist die Tatsache, dass der Mensch zum Guten fähig ist. Auch und gerade im Angesicht von Katastrophen, von Unglück und Leid, wächst der Mensch oft über sich hinaus. In schweren und in fordernden Zeiten zeigen wir, welche Kraft zum Guten in uns steckt. Viele von denen, die heute trauern und leiden, haben in den vergangenen Tagen diese Erfahrung gemacht.
In den vergangenen Wochen haben viele Menschen in Frankreich, besonders im Gebiet des Absturzes, alles getan, was ihnen möglich war, um die Angehörigen zu empfangen, um die Toten zu bergen und um den Hergang der Katastrophe zu erforschen. Wir denken deshalb mit großer Dankbarkeit heute an die Helfer vor Ort, deren Augen Schreckliches gesehen haben.
Wir danken den Polizisten, Feuerwehrleuten, Bergführern, Sanitätern, Ärzten, Laborkräften, Kriminologen, Luftverkehrsspezialisten und den vielen, die mehr als ihre Pflicht getan haben. Eine ganze Reihe von ihnen ist heute unter uns.
Ich danke auch den französischen Behörden in den Kommunen, dem Departement und der Region bis zu den Ministerien und dem Präsidenten der Französischen Republik. Auch den deutschen Behörden, dem Auswärtigen Amt und der Botschaft in Paris sowie dem Generalkonsulat in Marseille gebührt Anerkennung und Dank. Und schließlich haben Lufthansa und Germanwings geholfen und unterstützt, wo es möglich und nötig war.
Ganz persönlich möchte ich mich auch bei allen Französinnen und Franzosen bedanken, die Anteil genommen haben auch am Leid der Angehörigen aus Deutschland. Sie haben ihre Häuser und ihre Herzen geöffnet und den Angehörigen in ihrer Trauer geholfen. Für dieses berührende Zeichen der Freundschaft zwischen unseren Ländern sind wir alle zutiefst dankbar. Und deswegen freue ich mich, dass Staatsminister Alain Vidalies bei uns ist. In schweren Stunden stehen unsere Völker erst recht zusammen. Das zeigen auch die vielen Beweise der Anteilnahme, die aus allen Teilen Europas, ja der ganzen Welt bei uns eingetroffen sind.
Aus Spanien kamen ebenfalls sehr viele Todesopfer. Auch unsere beiden Länder sind in der Trauer besonders verbunden, und so begrüße ich stellvertretend aus Spanien Herrn Innenminister Jorge Fernández Díaz.
„Ich wünsche uns einen Stern“
Gerade der Flugverkehr steht für die zusammenwachsende Welt. Die Fluglinien verbinden nicht nur alle Erdteile, jede einzelne Maschine ist häufig mit Menschen aus den verschiedensten Nationen besetzt. Die Fragilität der Existenz, vor allem, wenn wir unterwegs sind, ist eine alltägliche und gemeinsame menschliche Erfahrung.
Hier im Dom zu Köln werden seit alters her ganz besonders die Heiligen Drei Könige verehrt, die auch als Weise aus dem Morgenland bekannt sind. Die Bibel erzählt von ihnen. Niemand kennt ihre Nationalität, niemand kennt ihre Religion. Erzählt wird nur, dass sie einem Stern folgten, der sie durch die Dunkelheit an ihr großes Ziel führte.
Das wünsche ich allen, die heute klagen und trauern und um ihre Liebsten weinen, das wünsche ich uns allen, die wir das Weiterleben bisweilen wie eine Last empfinden mögen: Ich wünsche uns einen Stern, der uns sicher und klar leitet durch die Dunkelheiten unseres Lebens. Der uns begleitet und führt und uns sagt:
Du bist nicht allein.“