Bildungsplanung in Baden-Württemberg realisieren! Jetzt erst Recht!
Erklärung der SprecherInnen des Bundesweiten Arbeitskreises Säkulare Grüne:
Wir verurteilen die massive und böswillige Kritik der Initiative „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ an der Bildungsplanung des Landes Baden-Württemberg, die aus evangelikal-konservativen Kreisen lanciert wurde und von der rechtspopulistischen Internetplattform „Politically Incorrect“, der islamistischen Vereinigung „Milli Görüs“ und der rechtspopulistischen Partei „Alternative für Deutschland“ unterstützt wird.
Mit großer Empörung registrieren wir, dass diese Initiative Schützenhilfe von Seiten der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Kirche in Baden-Württemberg erhält. In einer gemeinsamen Stellungnahme erklären diese Kirchen in Bezug auf die Pläne der Landesregierung: „Jeder Form der Funktionalisierung, Instrumentalisierung, Ideologisierung und Indoktrination gilt es zu wehren.“ Mit dieser rein ideologisch begründeten Aussage stützen sie die Unterstellungen der menschenrechtsfeindlichen Religiös-Konservativen und machen diese Kräfte salonfähig. Die christlichen Großkirchen bemühen ein nicht näher ausgeführtes „Menschenbild“ auf „Grundlage der baden-württembergischen Landesverfassung und der Schulgesetze“, um gegen ein Werben für mehr mitmenschliche Akzeptanz und Toleranz bereits im Schulalter zu polemisieren und reklamieren in der unseligen Tradition religiöser Besserwisserei und Bevormundung die „richtige“ Position selbstverständlich für sich – auf Basis „religiös-ethischer Bildung und Erziehung“solle die Persönlichkeit entfaltet werden. Damit sind sie es, die gewissermaßen ein Indoktrinationsmonopol für sich reklamieren.
Wir unterstützen mit voller Überzeugung die Haltung der baden-württembergischen Landesregierung, das gesellschaftliche Miteinander durch mehr Akzeptanz die vorhandene sexuelle Vielfalt nicht mehr auszugrenzen, sondern die Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung zu betonen. Es ist ebenso richtig wie richtungweisend, das Baden-Württemberg das Thema in den Schulen des Landes vermitteln möchte.
Wir appellieren an die Landesregierung und die sie tragende grün-rote Koalition, sich weder von der Kritik der Kirchen noch durch die Petition Ewiggestriger vom eingeschlagenen richtigen Weg abbringen zu lassen. Homophobie hat eine lange, eine schreckliche Tradition. Gerade wir Grüne können mit Stolz von uns sagen, dass wir gegen diese Tradition mit voller Überzeugung kämpfen.
Wenn jetzt die Kirchen vorbringen, Kinder und Jugendliche dürften bei ihrer Suche nach der sexuellen Identität nicht beeinflusst werden, offenbart sich darin eine Haltung, die Jahrzehnte der gesellschaftlichen Öffnung, der Entfaltung der Menschenrechte, wieder zurückdrehen will. Diese Haltung befördert kalkuliert Vorurteile gegen eine Minderheit, die gerade dabei ist, die letzten juristischen Fesseln der Diskriminierung zu überwinden.
Wir wollen, wir dürfen niemals vergessen: Vor weniger als einem Jahrhundert noch wurden Menschen mit gleichgeschlechtlicher Sexualität in Deutschland getötet, vor wenigen Jahrzehnten noch strafrechtlich verfolgt!
Ein derart reaktionäres Gebräu – wie wir es jetzt in Baden-Württemberg seitens der religiösen Extremisten sowie von den christlichen Großkirchen und Milli Görüs flankiert serviert bekommen – ist in höchstem Maße ethisch verwerflich und abstoßend.
Gerade die ablehnenden Reaktionen aus den Großkirchen sollten Ansporn sein, in den Schulen die Toleranz gegenüber homosexuellen Menschen zu fördern und die in einer freiheitlichen Gesellschaft eigentlich selbstverständliche „Pluralität von Lebensentwürfen“, die „Pluralität sexueller Ausrichtungen“ und die „Pluralität geschlechtlicher Identitäten“ zu thematisieren.
Angesichts der Heftigkeit der Debatte genügt es freilich nicht, die Attacke gegen eine aufgeklärte Bildungs- und Gesellschaftspolitik lediglich mit diplomatischen Worten zurückzuweisen. Der Konflikt muss uns als Grüne vielmehr darin bestärken, die bereits angelaufene innerparteiliche Reformdebatte zu vertiefen und unsere kirchenpolitischen Positionen grundlegend zu überdenken.
Der gemeinsame Vorstoß der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Kirche gegen die baden-württembergische Landesregierung lässt schmerzlich erkennen, dass entgegen einigen – allzu optimistischen – Annahmen, die Reformkräfte in den beiden Kirchen wohl doch nicht stark genug sind, derart reaktionäre Vorstöße zu unterbinden.
Sind die Kirchen, die sich – was wir nicht verkennen wollen – in den letzten Jahrzehnten der Demokratie erheblich angenähert haben, in ihrem Kern immer noch den Menschenrechten gegenüber distanziert? Eine zentrale Frage drängt sich angesichts der aktuellen Situation auf: stehen die jetzt deutlich gewordenen Kräfte innerhalb der Kirchen nicht den gesellschaftspolitischen Zielen von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN diametral entgegen, so dass sie nicht als Bündnispartner für eine menschenrechtsorientierte grüne Gesellschaftspolitik fungieren können?
Wenn es möglich ist, dass reaktionäre Personen, wie der Initiator der Petition, der Realschullehrer Stängle, sanktioniert von Religionsgemeinschaften Schulunterricht verantworten kann und dabei den Schüler*innen jenen „Wertekodex“ vermittelt, wie er in der Petition zum Ausdruck kommt – ist es dann nicht geboten, grundsätzlich das Modell eines konfessionsgebundenen Unterrichts von Grüner Seite in Frage zu stellen?
Wir fragen: darf der freiheitliche Staat es zu lassen, dass weiterhin an derartige Kräfte die schulisch-ethische Erziehung der jungen Generation delegiert wird? Kann dies aus ethischen Gründen und um des friedlichen gesellschaftlichen Miteinanders noch hingenommen werden?
Umso wichtiger ist es, dass wir eine eigenständige Position unserer Partei entwickeln, die deutlich macht, dass die Grundlage von Staat und Gesellschaft nicht auf bestimmten religiösen Vorstellungen – einschließlich kruder Sexualmoral – beruhen kann. Keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft hat das Recht, ihre Glaubensinhalte oder Überzeugungen zum bestimmenden Maßstab für unser Recht und unser Aller Zusammenleben zu machen. Wir haben uns daher geschlossen und entschlossen allen Bestrebungen zu widersetzen, die Rechte der Menschen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit einschließlich ihrer sexuellen Identität fehlgeleiteten religiösen Dogmen unterzuordnen.
Wir sind davon tief überzeugt, dass unter den Bedingungen wachsender religiöser, weltanschaulicher und kultureller Vielfalt ein wirksamer Schutz unserer Freiheitsrechte nur von einer staatlichen Ordnung gewährleistet werden kann, die auf eine religiöse oder weltanschauliche Herleitung ihrer Tätigkeit verzichtet. Nur auf dieser – säkularen – Grundlage wird der Kampf gegen Diskriminierung und für die vollständige Entfaltung der Menschenrechte erfolgreich sein.
Religiöse Identität verschiebt sich mehr und mehr aus dem Bereich bestehender Einrichtungen in die Sphäre des Persönlichen. Das Verhältnis von Staat und Kirchen muss daher auf eine neue Grundlage gestellt werden, in der der Mensch selbst im Mittelpunkt steht, und nicht die überholten Privilegien bestehender Institutionen. Das geltende Recht muss dieser Entwicklung gerecht werden und eine überzeugende Trennung von Staat und Kirchen bewirken.
Lasst uns diesen Weg der Reform gemeinsam gehen, zum Wohle unserer Gesellschaft und der hier lebenden Menschenmit der ganzen Vielfalt ihrer Lebensgestaltung sowie ihrer Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen.
15.01.2014
Die Sprecher*innen des Bundesweiten Arbeitskreises Säkulare Grüne
Mariana Pinzón Becht + Gislinde Nauy + Walter Otte + Dr. Dr. Rahim Schmid
Dokumentation:
Stellungnahme der grünen Landtagsfraktion Baden-Württemberg
Bildungsplan 2015 – Akzeptanz sexueller Vielfalt (an Schulen) stärken
Beschluss der Fraktion Grüne
Wir Grünen setzen uns dafür ein, dass im Rahmen der anstehenden Bildungsplanreform 2015 pädagogische Möglichkeiten ausgelotet und genutzt werden, die geeignet sind, an Schulen ein Klima der Offenheit, des Respekts und der Akzeptanz im Kontext einer vielfältigen Gesellschaft zu stärken.
Die Bildungspläne werden im etwa zehnjährigen Rhythmus regelmäßig überarbeitet. Die derzeitigen Bildungspläne aus dem Jahr 2004 müssen überarbeitet werden, weil die Standards der Kultusministerkonferenz nicht durchgängig berücksichtigt sind. Auch soll die Durchlässigkeit und damit die Wechselmöglichkeit zwischen Bildungsgängen verbessert werden. Inhaltlich sollen neue didaktische Erkenntnisse eingepflegt und z.B. die Medienkompetenz als Querschnittsaufgabe gestärkt werden.
Im Blick auf die Akzeptanz gegenüber verschiedenen sexuellen Orientierungen geht es uns darum, das Schweigen zu durchbrechen und aufzuklären, sodass die gesellschaftliche Realität sich auch im Schulalltag, den Lehrmaterialien und Bildungsplänen widerspiegelt. Bereits in unserem Koalitionsvertrag „Der Wechsel beginnt“ haben wir festgelegt: „Aufklärung und Sensibilisierung sind entscheidend, um zu Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung zu gelangen. Wir werden baden-württembergische Schulen dazu anhalten, dass in den Bildungsstandards sowie in der Lehrerbildung die Vermittlung unterschiedlicher sexueller Identitäten verankert wird.“ In den meisten anderen Bundesländern ist das Thema sexuelle Orientierung in diesem Sinne bereits Bestandteil der Bildungspläne.
Die Reaktionen von CDU und FDP zeigen eindrücklich, wie wichtig der Regierungswechsel 2011 für die Entwicklung eines weltoffenen und toleranten Baden-Württemberg war und ist.
Die von Teilen der evangelischen und katholischen Kirchen vorgebrachten Argumente, die Jugendlichen würden dadurch in ihrer sexuellen Identität beeinflusst, sind nicht nachvollziehbar (vgl. Pressemitteilung der vier großen Kirchen in Baden-Württemberg vom 10.01.2014). Bislang wird in den Bildungsplänen und -mitteln eine vermeintliche Normalität der ausschließlichen Heterosexualität konstruiert, die der gelebten gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht entspricht, und in der sich ein nicht zu vernachlässigender Anteil der Jugendlichen nicht wieder findet.
Dies wollen wir ändern. Anstelle von Ausgrenzung und Diskriminierung sollen Akzeptanz und Respekt in die Klassenzimmer einziehen. Hierbei geht es um Aufklärung und keinesfalls um „Umerziehung“.
5 bis 13 Prozent aller jungen Menschen entwickeln eine gleichgeschlechtliche oder bisexuelle Orientierung. Umfragen zufolge erleben diese Jugendlichen an Schulen Vorurteile, Diskriminierung und Mobbing, die eindeutig auf ihre sexuelle Orientierung zurückzuführen sind.
Für die betroffenen Jugendlichen hat dies weitreichende Konsequenzen. Nicht zuletzt ist der Anteil an Selbsttötungen unter diesen Jugendlichen signifikant höher als unter den gleichaltrigen Vergleichsgruppen.
Eine Studie der Humboldt Universität Berlin (8/2012) belegt den großen Einfluss von Lehrkräften auf das Verhalten von Schüler/innen: Je mehr die Schüler/innen über verschiedene sexuelle Identitäten wissen und je häufiger dies im Unterricht thematisiert wird, desto höher ist die Akzeptanz und Solidarität unter Jugendlichen.
Die Bildungsplanreform 2015 sieht nach heutigem Stand des Arbeitspapiers der Bildungsplankommission die Verankerung von fünf Leitprinzipien vor:
- Berufliche Orientierung
- Bildung für nachhaltige Entwicklung
- Medienbildung
- Prävention und Gesundheitsförderung
- Verbraucherbildung
Diese Leitprinzipien sollen fächerübergreifend vermittelt werden. Die Umsetzung dieser Prinzipien in den einzelnen Fächern wird von den Bildungsplankommissionen erarbeitet.
Das Kultusministerium hat am 18.11.2013 ein Arbeitspapier zur Verankerung der Leitprinzipien vorgelegt, in dem auch Vorschläge zur Förderung der Akzeptanz sexueller Vielfalt enthalten sind. Da es sich um ein Arbeitspapier handelt ist es selbstverständlich, dass bei Inhalt und Struktur des Papiers noch Änderungsbedarf besteht, ohne dabei das Grundanliegen aus dem Blick zu verlieren.
Wir Grüne stehen dafür, dass in Baden-Württemberg Menschen jeden Geschlechts, jeder sexuellen Orientierung, jeder Abstammung, Sprache, Heimat und Herkunft und jeden Glaubens und Menschen mit Behinderungen Offenheit, Toleranz und Wertschätzung erfahren.
Stuttgart, 14.01.2014
Anlage:
Petitionen
Am 28.11.2013 wurde von Gabriel Stängle, einem Nagolder Realschullehrer, die Onlinepetition „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ gestartet.
Am 07.01.2014 wurde von Bastian Burger die Onlinepetition „Gegenpetition zu: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ gestartet.
Beide Petitionen sind bei „onlinePetition.de“ eingestellt. Auf dieser Plattform sind Mehrfachunterschriften sowie das Eintragen beliebiger Personen problemlos möglich. Die Zahlen der Unterstützer/innen sind daher mit Vorsicht zu behandeln.
Bei beiden Petitionen wurde eingegeben, dass sie letztendlich an den Landtag adressiert werden sollen. Aktuell sind sie noch nicht beim Petitionsausschuss des Landtags eingereicht worden.
Abgeordnete des Landtags können Petitionen an den Landtag lediglich und ausdrücklich nur als Privatperson unterzeichnen. Da es etwas skurril anmutet eine Petition an sich selbst als Abgeordnete oder Abgeordneter zu stellen, wird empfohlen als MdL keine Petition an den Landtag zu unterzeichnen.
Vorschlag zum weiteren Vorgehen
Der in den letzten Wochen entstandenen Debatte um Maßnahmen zur Stärkung der Akzeptanz sexueller Vielfalt im Rahmen der Bildungsplanreform in Baden-Württemberg steht die hauptsächlich positive Resonanz, die der Fußballer Thomas Hitzlsperger nach seinem Outing bundesweit und international erfahren hat, gegenüber.
Um die toleranten Stimmen in der Debatte in Baden-Württemberg hörbarer zu machen, wäre es sinnvoll, ein breites gesellschaftliches Bündnis aus Kirchen, Verbänden, Gewerkschaften und der Wirtschaft anzustreben.