Nachdenken über nationale Trauerfeiern
Von Jürgen Roth
Jede Gemeinschaft ist zur Festigung ihres inneren Zusammenhalts darauf angewiesen, für besondere Situationen Formen eines gemeinsamen Gedenkens zu besitzen. Das gilt für private, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge ebenso wie für einen Staat. Ihm aufgrund fehlender religiös-weltanschaulicher Gemeinsamkeit der Bürgerinnen das Recht auf Gedenkakte abzusprechen, übersieht durch Verkennung der Bedeutung gemeinsamer Rituale wesentliche Erfordernisse gesellschaftlicher und staatlicher Integrationsprozesse.
Die Notwendigkeit des würdigen Gedenkens gilt nicht allein für die Bundeswehr und ihre Toten bei Auslandseinsätzen oder Polizeibeamte, die ihren Dienst mit dem Leben bezahlt haben. Beweggründe für eine Gedenkfeier können durchaus vielfältig sein. Die Bundesrepublik Deutschland begeht regelmäßig wiederkehrende Gedenktage wie den Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, den Volkstrauertag und die Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni. Zu diesen Anlässen haben sich feste, durchaus säkular geprägte, Formen des staatlichen Gedenkens entwickelt. Dazu zählen Feierstunden im Parlament und die Niederlegung von Kränzen an der Neuen Wache. Die Organisation obliegt öffentlichen Stellen, während die Beteiligung kirchlicher Stellen eher gering ist.
Anders ist aber der Umgang mit Katastrophen wie dem Flugzeugabsturz in Frankreich. Das zeigt sich an der Gestaltung der Trauerfeier im Kölner Dom am 17. März 2015. Auffällig war hier, wie zuletzt auch anlässlich der Beisetzung des früheren Bundespräsidenten Richard v. Weizsäcker, die als Selbstverständlichkeit zelebrierte Mischung eines christlichen Trauergottesdienstes mit einem klassisch säkularen Staatsakt. Die würdevolle Gedenkfeier in Köln mit der Teilnahme aller fünf Verfassungsorgane stand in ihrem ersten Teil als ökumenische Veranstaltung unter der Leitung des katholischen Erzbischofs und der evangelischen Präses.
Diese Gestaltung der Zeremonie wirft aber Fragen auf. Noch in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts waren rund 95 Prozent der Einwohner der (alten) Bundesrepublik Angehörige der beiden Großkirchen. Gelang es bei besonderen Anlässen die „Glaubensspaltung“ zu überwinden, erschien die so dokumentierte Identität von Bürger und Christ noch irgendwie plausibel. Die Grundlagen für diese Gleichsetzung haben sich aber grundlegend verändert. Heute nähert sich der Anteil der Mitglieder der Großkirchen bundesweit der Marke von 50 Prozent; in den Stadtstaaten und in den östlichen Bundesländern liegt er bereits deutlich darunter. Bei großen offiziellen Anlässen schlagen sich diese tiefgreifenden gesellschaftlichen Verschiebungen aber noch nicht nieder. Die Verantwortlichen leiten wohl noch immer aus anlassbezogener Ökumene den Anspruch der christlichen Großkirchen auf Repräsentanz für (fast) alle Bürgerinnen und Bürger ab.
Wir müssen aber heutzutage davon ausgehen, dass auch Trauergemeinden den gesellschaftlichen Wandel zu mehr religiöser und weltanschaulicher Vielfalt widerspiegeln. In Köln war davon allenfalls durch die wenigen Worte einer Muslima und eines Juden etwas zu spüren. Erst nach dem Ende des – katholisch und evangelisch geprägten – religiösen Teils folgte bruchlos der Staatsakt mit der Rede der Ministerpräsidentin Kraft und der vortrefflichen Ansprache von Bundespräsident Gauck. Der christliche Teil verschmolz auf diese Weise mit dem “staatlichen” Bereich zu einer Einheit.
Es ist gerade mit Rücksicht auf die Situation vieler Hinterbliebener in keiner Weise zu beanstanden, wenn Erzbischof Woelki und Präses Kurschus mit Liturgie und Gebeten die Angehörigen ihrer Religion ansprechen. Es wäre gegenüber einer Vielzahl der Trauernden nicht akzeptabel, dieses Gedenken womöglich in irgendwelche öffentlichen Mehrzweckhallen verbannen zu wollen, um so die Trennung von Staat und Kirchen zu dokumentieren.
Ist es aber angemessen, in einem nationalen Trauergottesdienst das christliche Glaubensbekenntnis zu beten und so alle Anwesenden ungefragt für sich zu vereinnahmen? Gab es nicht auch Angehörige der 150 Toten, die von der christlichen Botschaft nicht erreicht werden? Hier genügt es nicht, auf den Staatsakt und die Ansprachen des Bundespräsidenten und der Ministerpräsidentin zu verweisen, die alle Angehörigen gleichermaßen anzusprechen hatten. Menschen ohne Konfession oder mit anderen als christlichen religiösen Überzeugungen leiden aber ebenso wie Christen, Muslime und Juden unter dem furchtbaren Verlust ihrer Liebsten. Ist es daher nicht achtlos, diesen Menschen jene persönliche Ansprache zu versagen, die den christlichen Trauernden sowie, wenngleich in bescheidenem Umfang, auch den muslimischen und jüdischen Angehörigen, zuteilwurde?
Wir sollten als Menschen mit säkularer Überzeugung mit Rücksicht auf die Gefühle anderer und ohne antiklerikale Reflexe darüber nachdenken, wie angesichts wachsender religiös-weltanschaulicher Vielfalt und einer zunehmenden Zahl von Konfessionsfreien derartige – staatliche – Feiern künftig so gestaltet werden sollten, dass nicht länger ein bedeutender Teil der Bevölkerung unbeachtet bleibt.
Gemeinsame Gottesdienste der beiden großen christlichen Kirchen genügen als Rahmen für offizielle Staatsakte nicht (mehr). Das gilt für traurige Anlässe, ebenso wie für Eröffnungen des Parlaments und andere bedeutsame gesellschaftliche Anlässe. Eine Änderung der staatlichen Kultur des Gedenkens richtet sich gegen niemanden. Nationale Trauerfeiern an Stelle überkommener Gottesdienste, in denen die christlichen Kirchen einen Platz behalten sollten, dürfen aber niemanden mehr ausgrenzen.